21.2.20
Es ist viertel vor Sechs in der Früh, als ich auf die Station komme. Der erste Abschnitt an diesem Tag liegt bereits hinter mir, der daraus besteht in nachtschwarzer Dunkelheit um 4.30 Uhr aufzustehen, mich zu waschen, auf das Klapprad zu springen, zum Bahnhof zu düsen, den 5.06 Uhr-Zug zu erwischen, mit diesem Zug nach L. zu fahren, dort am Bahnhof wieder auf das Rad zu steigen, auf dem Kopfhörer ein Lied zu hören, das mich wach hält und mein Herz erwärmt, mit dem Rad zum Pflegeheim zu hecheln, mich in der Umkleide in Rekordzeit umzuziehen und dann nach dem ersten Schweißausbruch, frisch und mit Augenringen, auf der Station einzulaufen.
Hallelujah. Hier bin ich. Ich trete aus dem Aufzug, biege um die Ecke - das Bild mit den flächig-verunglückten Pfingstrosen im Blick. Ich desinfiziere meine Hände und gehe den langen, noch ganz stillen, Gang zum zentralgelegenen Essensraum. Bevor ich in den Gemeinschaftsraum abbiegen kann, bleibe ich an der geöffneten Tür zu Herrn G.s Zimmer hängen. Hier brennt Licht. Herr G. sitzt auf seinem Bett - es ist nichts Ungewöhnliches dass Herr G. zu dieser Zeit wach ist. Seine dementiellen Veränderungen prägen sich bei ihm auch in einer Verkehrung des Tag/Nacht-Rhythmus aus.
Herr G. ist angezogen – so scheint es mir auf den ersten Blick und er versucht die Knöpfe seines Hemdes zu schließen, was ihm nicht gelingt. Er ist verzweifelt.
Als ich das Zimmer betrete und mich zu ihm stelle erkenne ich das Problem: Herr G. trägt einige Pullover und Hemden übereinander und das oberste Hemd ist auch noch auf links verkehrt, so dass es wirklich kompliziert ist, die kleinen Knöpfe zu schließen – das würde auch mir schwer fallen – denke ich und es wundert mich nicht, dass es ihm nicht glückt.
„Guten Morgen Herr G.“ sage ich „was tun sie da?“
„Ich ziehe mich an. Das sehen sie doch.“ antwortet er vorwurfsvoll. „Aber ich schaffe es nicht.“ Er hält inne und lässt in einer erschöpften Geste den Kopf hängen. Einem weiteren Gedanken folgend verzieht er sein Gesicht und schluchzt: „Jetzt kann ich mich noch nicht einmal mehr anziehen.“ Er scheint zu weinen. „Und sie“ ergänzt er, stockt und fügt schließlich hinzu „können auch nichts dagegen tun.“ Ich bin überrascht, überfordert und höre mich selbst sagen: „Das stimmt Herr G. Das kann ich nicht. Aber ich kann bei Ihnen sein.“ Ich stelle meine Tasche ab und nehme - entgegen meiner Gewohnheit und den Gepflogenheiten - neben ihm auf der Bettkante Platz. Dann lege ich meine Hand auf seinen Rücken und warte ab, was geschehen mag. Er weint. Ich lasse ihn weinen. Wir sagen nichts. Langsam beruhigt er sich. Schwer wiegt dieser Gedanke in ihm, er stützt sich mit den Ellenbogen auf seinen Oberschenkeln ab. Sein Rücken ist gespannt wie ein Bogen.
„Herr G.,“ sage ich „ich stelle meine Tasche schnell im Schwesternzimmer ab. Dann komme ich zu ihnen und helfe ihnen beim Anziehen.“
Ich verlasse das Zimmer und als ich wenige Minuten später das Zimmer von Herrn G. wieder betrete, strahlt er mich an: „Guten Morgen!“ sagt er. „Guten Morgen!“ antworte ich. „Wie geht es Ihnen?“ Darauf bekomme ich zwar keine Antwort, aber ich helfe Herrn G. aus den vielen Kleidungsstücken und wir erledigen die morgendliche Routine, als wäre nichts gewesen.
Herr G. ist ein sehr musikalischer Mensch, der gerne Mundharmonika spielt und singt. Gemeinsam singen wir „Im Frühtau zu Berge wir ziehn, fallera“ während ich ihn an seinen Platz im Frühstücksraum begleite.
Dann eile ich weiter, um allen BewohnerInnen zu helfen, die heute noch auf meiner Liste stehen.
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