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  • AutorenbildDörte

"Wie lösen wir den Verein hier auf?"

Aktualisiert: 6. Okt. 2020

Es ist an einem der schönen Frühlingstage im Jahr 2020, in dem Jahr als, Covid-19 anfing, uns zu beherrschen. Die Stationen in den Alten- und Pflegeheimen wurden für BesucherInnen geschlossen. So auch bei uns. Die Irritation war groß. Nicht nur für unsere Bewohner der sehr durchmischten Station, deren Sinne noch vollständig funktionierten. Man möchte meinen, für einen demenziell veränderten Menschen, der immer nur im Moment ist, sei es egal, ob er Besuch bekäme oder nicht, da er das ja sowieso vergesse. Aber weit gefehlt. Unsere Patienten mit kognitiven Einschränkungen waren unruhiger, verwirrter, deprimierter in diesen Tagen - etwas, das sie nicht verstanden und zu fassen vermochten, hatte sich verändert. Da die Information an sich "Sie können derzeit keinen Besuch empfangen, da in der Welt ein Virus umgeht und wir sie schützen müssen" zwar vielfach kommuniziert wurde, aber eben nicht haftete. Es blieb einfach Verwirrung zurück. Irgendetwas war plötzlich anders und es war unerklärlich, was es war.


Nun hatten wir einen Bewohner, Herrn W.. Sein Mitte 90-jähriger Körper zeigte Spuren eines langen Lebens - steife Glieder, kaputte Hüfte, Demenz. Er war ein höflicher Mann, ein Mann, der auf eine Art achtsam durchs Leben ging und den Herausforderungen, die die Demenz ihm stellte, auch mit Freundlichkeit begegnete und diese anzunehmen schien. Für sein Verhalten bewunderte ich ihn sehr. Er machte es mir auch einfach, da er sich bei uns, dem Pflegepersonal, regelmäßig bedankte für unsere Arbeit. Das Besondere an ihm war, dass er, im Gegensatz zu anderen BewohnerInnen, unsere Arbeit sah und was wir leisten.


Das kam sicher daher, dass Herr W. in seinem früheren Leben Unternehmer gewesen war und wusste, wie Systeme aufgebaut sind und wie diese funktionieren. Er wusste sicher auch, dass ein Unternehmen niemals bestehen kann ohne die Menschen, die dieses tragen mit der täglichen Arbeit, die sie verrichten.


Nun begann die Zeit des Virus und unsere BewohnerInnen wurden eingesperrt. Es gab außer uns, den PflegerInnen keinen Kontakt zur Außenwelt. Auch Spaziergänge im Hof wurden untersagt.

Dass die BewohnerInnen "eingesperrt" waren - durften wir natürlich nicht mit diesem Wort an die BewohnerInnen kommunizieren. Und dennoch war es doch so.

Alter Mann mit Maske schaut aus dem Fenster.
Bild: © wix.com

Eines Nachmittags - wir hatten gerade Kaffee und Kuchen abserviert, nahm Herr W. im gemeinsamen Essensraum Kontakt zu den anderen BewohnerInnen mit Demenz auf. Das hatte er so noch nie getan. Er machte eine Runde um den Tisch und forderte die anderen auf, zusammen zu kommen, was diese auch bereitwillig taten. Sie schienen zu spüren, dass er ein wichtiges Anliegen hatte. Es war eine kleine Gruppe von Herrschaften, die sich da zusammen scharte. Nur wenige Sätze von dem was da gesprochen wurde, konnte ich aufschnappen, ohne die Bewohner zu belauschen. Was aber ganz deutlich wurde: Herr W. hatte eine Sitzung einberufen, um mit seinen Kollegen zu überlegen, wie sie da gemeinsam aus dem Haus heraus kommen könnten. Ich hörte beim Vorbeigehen: "Und Leute, wie lösen wir den Verein hier auf?" Mir hat es in dem Moment das Herz zerrissen. Ja, wie kann man diese Institution, diese geschlossene Station, diese Situation durch den Virus auflösen, aufheben? Alle nickten eifrig und machten wichtige Gesichter. Allen war klar, hier ging es um etwas besonders Wichtiges. Viele konnten dem Gesagten zwar intellektuell nicht folgen, aber ihr Gefühl leitete sie zu Bewegungen, Gestik und Mimik aus längst vergangenen Tagen. Hier tagte ein Gremium.

Nach ein paar Minuten löste sich die Gesellschaft auf. Und der Tag verstrich wie so viele Tage vorher und nachher.


Am folgenden Tag half ich Herrn W. bei der Grundpflege und irgendwann, während wir mit dem Waschen und Anziehen beschäftigt waren, fragte er mich wie aus dem Nichts: "Wissen Sie eigentlich, was dabei rausgekommen ist?" Ich schaute ihn verwundert an. Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. "Was meinen Sie? Wobei heraus gekommen?" fragte ich zurück. "Na ich dachte vielleicht wissen sie ja, was entschieden wurde - ob der Verein hier aufgelöst wird." Ich musste schmunzeln. "Ach, Herr W. Nein, leider weiß ich es nicht, was dabei herausgekommen ist."


Lange noch hat mich diese Situation und Herrn W.s Handeln beschäftigt. Gerne hätte ich ihn und seine Mitbewohner befreit. Die Behandlung, die Stationen auf die Art und Weise zu isolieren fand ich damals ungerecht und falsch. Denn niemand von unseren Leuten wurde gefragt, ob sie denn überhaupt durch eine Isolation "geschützt" werden wollten.


Wenige Wochen später fand die Frühschicht Herrn W. in seinem Badezimmer. Er war gestürzt. Bei einem Toilettengang in den frühen Morgenstunden muss ihm seine, durch eine im Krieg verletzte Hüfte, zu unbeweglich gewesen sein und er stürzte, sich verletzte und starb.


So hat das Leben einen Weg für Herrn W. aus diesem "Verein" gefunden.


Ich vermisse ihn noch heute.



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