An einem Morgen im Frühdienst in der neuen Einrichtung mit der Spezialisierung auf Demenz war ich mit der Pflege von Frau B. betraut. Als ich das Zimmer betrat, hatte sie bereits die Augen geöffnet, lag aber noch im Bett. Ich fragte sie, ob ich sie ins Bad begleiten dürfe, was sie bejahte und als ich ihr half, sich an die Bettkante auf zu setzen, begannen wir ein angeregtes Gespräch über die vergangene Nacht. Sie erzählte mir, dass sie Nachricht bekommen habe von ihrem Vater und einer Schwester, die sie bald einmal besuchen kommen wollen. Mit dem wenigen Wissen aus meiner Ausbildung stieg ich auf diesen Gedanken ein und fragte nach. "Ich habe die beiden ja seit dem Krieg nicht gesehen und jetzt wollen sie mich besuchen kommen." "Wie schön!", antwortete ich "woher kommen die beiden denn?" Frau B. antwortete etwas verschwommen aber doch für mich verständlich, dass der Besuch aus Holland anreisen würde. Das machte mich neugierig. "Aus Holland Frau B.? Was haben sie denn mit Holland zu tun?" "Ich bin dort geboren. Wir mußten im Krieg von dort fliehen." "Und sprechen sie auch Niederländisch?" "Ja natürlich! Ich bin doch dort auch zur Schule gegangen." Nun war ich verblüfft. Ihr süddeutscher Nachname hatte mich in die Irre geführt und ich hätte niemals vermutet, dass sie etwas mit den Niederlanden zu tun haben könnte. Ich setzte das Gespräch auf Niederländisch fort. Einfache Floskeln, einzelne Worte. Sie schaute mich mit großen Augen an. "Haben Sie auch in den Niederlanden gelebt?" "Ja, das habe ich." Antwortet ich und strahlte sie an. Die Grundpflege machte uns beiden richtig Spaß und unser Gespräch ging ungefähr so weiter - zwischen deutschen und niederländischen Sätzen, zwischen den Zeiten.
Als ich Frau B. zum Frühstückstisch begleitet und ihr geholfen hatte, sich hin zu setzen, drehte sie sich zu mir und sagte "Dank U wel" (zu Deutsch: Ich danke Ihnen) und ich antwortete ihr, indem ich mich zu ihr beugte mit einem großen Lächeln "Graag gedaan" (zu Deutsch: Gern geschehen.)
Immer wieder frage ich mich auf meinem Lebensweg und im Speziellen diesem Wegesabschnitt, ob das wirklich Sinn macht und wozu das wohl gut sein mag, so etwas zu durchleben. Ich habe so viele, unterschiedliche Stationen hinter mir und immer wieder wünsche ich mir, dass sie sich zu einem stimmigen Bild zusammenfügen. Dabei ist es oft schwer zu erkennen, ob ich da einen grauen, unansehnlichen Fleck auf meinem Bild produziere oder es nachher doch zu einem stimmigen Ganzen werden kann.
So ist auch mein Niederländisch Studium so ein grauer Bereich, von dem ich mich immer wieder frage: Wofür war das wohl gut?
Und in diesem kleinen, flüchtigen Moment habe ich so viel Stimmigkeit und Freude empfunden, dass es möglicherweise genau dafür gut war.
Frau B. spricht in den letzten Tagen immer wieder davon, dass es eine Mitarbeiterin gäbe, die Niederländerin ist. Wenn sie es in meiner Gegenwart erwähnt, gebe ich mich zu erkennen. Sie freut sich dann und wir können ein wenig an die gemeinsame Sprache und sehr unterschiedliche Erinnerungen anknüpfen.
Nachtrag:
In der letzten Woche, als ich Frau B. wieder bei der morgendlichen Pflege helfen durfte und wir niederländisch miteinander sprachen, da wandte sich Frau B. auf einmal zu mir und flüsterte: "Wenn uns die anderen hören - die müssen ja denken, dass wir nicht ganz richtig sind im Kopf." Wir lachten beide. Und ich antwortete: "Ja, das ist unsere Geheimsprache, Frau B."
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