Auf der Station in meinem ersten Lehrjahr lebten 34 BewohnerInnen mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen und Einschränkungen. Wir hatten Menschen mit Pflegegrad 2 bis 5. Da war im Bezug auf körperliche und kognitive Gebrechen alles mit dabei. Bei den BewohnerInnen mit vorwiegend dementiellen Veränderungen verändert sich nicht nur das Gedächtnis und das emotionale sowie soziale Verhalten. Die Veränderungen nehmen auch Einfluß auf den Körper. Schritt für Schritt vergißt der Kopf, wie der Körper funktioniert.
Die Bewegungen werden zunehmend unkontrollierbar, eingeschränkt, unkoordinierbar, bis sich die Glieder irgendwann festspannen, wie einfrieren in der Spannung.
In der Schule lernten wir, dass diese zusammengezogenen Muskeln als in einer "Spastik" "kontrahiert"bezeichnet werden. Im Stationsalltag sagten wir einfach "Kontrakturen" dazu. So wohnen viele BewohnerInnen mit angewinkelten Beinen, Armen und verdrehten Gliedmaßen den ganzen Tag im Bett - ihre Sehnen und Muskeln sind verkürzt. Viele der Menschen sind in ihren Körpern wie eingesperrt und sind darauf angewiesen, dass wir ihre Bedürfnisse kennen, erahnen und jegliche Tätigkeit übernehmen.
Dieser Zustand der angespannten Muskeln ist schmerzhaft anstrengend und gefährlich für die Personen, denn wenn Muskeln und Sehnen so unter Spannung stehen, können diese schnell reißen oder verletzt werden. Die Pflege eines Menschen mit Kontrakturen ist kompliziert, kräftezehrend und sperrig.
Herr B. war ein solcher Bewohner. Sein Körper hatte sich mit der Krankheit zu einem angespannten, runden Muskelpaket zusammengezurrt. Sein Rücken war rund, die Knie meist fest angezogen, ähnlich der Körperhaltung eines Embryo. Wenige Momente der Entspannung waren ihm im Täglichen möglich.
Ich mochte Herrn B., auch wenn wir anfangs wenig voneinander verstanden. Er sprach ein tiefes Weinbauer-Pfälzisch und je nach Tagesform mehr oder weniger zusammenhängende Sätze.
Täglich wurde Herr B. von uns aus dem Bett "mobilisiert", wie man das in der Stationssprache so nennt - will meinen, dass er in den Rollstuhl gesetzt wurde und im Gemeinschaftsraum mit den anderen BewohnerInnen essen und einen Teil des Tages verbringen konnte.
Oft beobachtete ich ihn, wenn er mit seiner Hand in der Luft etwas zeichnete oder nach etwas zu greifen schien. Manchmal strich er auf dem Tisch, der an seinem Rollstuhl befestigt war, stundenlang mit der Hand an den Kanten entlang. Er schien etwas mit einem unsichtbaren Tuch oder Schleifpapier zu säubern oder zu schleifen. Sein Leben lang war er Handwerker gewesen und diese Bewegungen erinnerten mich daran.
Vielleicht war er in eine Erinnerung, in eine andere Welt eingestiegen, ganz weit weg vom Alltag auf der Station. Ganz friedlich, konzentriert und irgendwie bei sich selbst schien er mir in diesen Stunden zu sein, wenn er sich so beschäftigte.
Was für ein Glück Herr B. doch hat, dass ihm diese Möglichkeit offen stand, in seinen liebsten Erinnerungen zu verweilen, dachte ich damals. Das ist sehr romantisch ausgedrückt. Aber so könnte man es auch sehen. Wie freiwillig dieser Rückzug war ist zweifelhaft. Es fühlte sich aber für mich gut und ertragbar an, es so zu betrachten.
Eines Tages - Herr B. lag nach der Mittagsruhe noch im Bett - hörte ich beim Vorbeigehen ein starkes Schnaufen aus seinem Zimmer. Es war so laut, dass ich es durch die geschlossene Tür hörte und in Sorge, ob ihm etwas zugestoßen sei, öffnete ich die diese und betrat das Zimmer.
Trotz seiner Kontrakturen war Herr B. ein sehr aktiver Bewohner, der sich in seinem Bett viel bewegte, der immer wieder vergaß, dass er nicht mehr gehen oder stehen konnte und vor Stürzen geschützt werden mußte.
Das Bild, das sich mir bot war fast komisch: Herr B. lag quer in seinem Bett und seine Wangen waren gerötet von einer Anstrengung, deren Ursache ich nicht sehen konnte. Seine Arme hatte er in die Luft gestreckt, als würde er einen dicken Balken heben, mit den Beinen drückte er sich gegen eines der Bettgitter, um für diese Anstrengung sein Gleichgewicht zu halten.
Er schaute mich überrascht, an seinem Arm vorbei, an - und ebenso erstaunt blickte ich zurück - ich hatte durchaus nicht mit dieser Szene gerechnet. "Was tun sie Herr B.?" fragte ich und er antwortete voll in seiner Aktion mit verkrampftem Kiefer von der anstrengenden Arbeit: "Ich helfe." Schnaufte er. "Oh" sagte ich, "dann möchte ich sie nicht stören. Helfen sie weiter!" Mein Kontrollblick hatte erfasst, dass Herr B. sicher war und ihm in dieser Situation nichts passieren konnte. So ließ ich ihn in seiner Geschichte und verließ das Zimmer.
Was für ein Glück, dachte ich, dass er das Gefühl erleben kann, hilfreich zu sein.
Welcher der anderen BewohnerInnen noch einen Sinn in ihren Leben finden konnten, kann ich nicht sagen. Viele von ihnen bekamen wenig bis keinen Besuch - der stumpfe immer gleiche Tagesablauf, der immer eingeschränkter wurde durch die Pandemie, half nicht zur Sinnstiftung. Absentiert von der Welt wurden unsere BewohnerInnen verwaltet und versorgt. Mehr nicht und nicht weniger.
Und Herr B.? Er hatte ein Schlupfloch gefunden und half, wo er konnte.
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