A. S. hat mein Herz berührt. Ich lernte Herrn S. an meinem ersten Praktikumstag in der Pfalz kennen. Er saß damals ganz allein in seinem Zimmer - die Essenszeiten ausgenommen - und machte nichts. Er saß da allein auf seinem Stuhl, leicht nach vorne gebeugt, und schaute und nickte ein und war einfach da. 'Vielleicht wartet er?' dachte ich. 'Vielleicht erinnert er sich an etwas Schönes? Oder etwas Schreckliches?' Es war für mich nicht zu erfassen. Irgendwie und ganz leise tat er mir leid.
"Warum bleibt er allein in seinem Zimmer?" fragte ich den Pfleger, der mir an diesem Probe-Tag die Station und die Abläufe zeigte. Dieser zuckte einfach die Schultern und sagte: "Das will er so." "Soll ich mich ein paar Minuten zu ihm setzen?" "Kannst Du schon machen." Der Pfleger verschwand und ich war mit Herrn S. allein. Ich nahm mir den zweiten Stuhl im Zimmer, setzte mich schräg neben ihn und versuchte ein Gespräch. Herr S. schaute mich erstaunt an. Außer ein paar einsilbige Antworten und ein paar Schulterzuckern und wegwerfenden Handbewegungen bekam ich wenig Gespräch mit ihm zusammen. Herr S. war offensichtlich schwerhörig, hatte/wollte aber keine Hörgeräte - auch wenn er diese zu brauchen schien. Aber hinter der Resignation erkannte ich etwas wie Interesse für das, was ich wohl von ihm wollte. Nach einer viertel Stunde nahm ich meinen Enthusiasmus etwas zurück und merkte, dass die Konversation Herrn S. tatsächlich anstrengte. Ich war unerfahren und gab für dieses Mal auf.
Gleichzeitig hatte dieser Mann in seiner Zurückhaltung mein Herz erobert. Ich mochte ihn, diesen A.S.. Vielleicht auch, weil er den gleichen Vornamen hat, wie mein Urgroßvater?
Als ich dann zwei Monate später meine Ausbildung in L. begann und tatsächlich auf dieser Station eingeteilt wurde, freute ich mich, denn ich wußte, Herr S. wäre dort. Wir lernten uns jeden Tag ein wenig besser kennen. Ich merkte, dass Herr S. von allen PflegerInnen auf der Station wohl gelitten wurde. Er war ruhig, nicht nervig oder aufmüpfig wie andere, er machte alles mit und gab selten Widerworte. (Ja, das ist so in der Pflege - nach dem Motto "wer nervt, fliegt raus"...) Hinter dieser Angepasstheit steckte aber auch eine Resignation, die nicht zu Herrn S. Vorteil war, denn sie sperrte ihn immer weiter ein und die körperliche und geistige Beweglichkeit nahmen zwar ganz leise, aber doch von Tag zu Tag ab.
Als ich in der Schule schließlich einen Praxisbesuch vorbereiten mußte, eine praktische Prüfung mit einem Bewohner, versuchte ich mit ihm ein intensiveres Vorbereitungs-Gespräch als unsere täglichen wenigen Sätze bei der Grundpflege. Ich wollte etwas über seine Vergangenheit und Biografie erfahren. Wir beide waren sehr erstaunt, dass sich Herr S. an so wenig aus seinem Leben erinnern konnte. Einen tieferen Einblick in sein Leben bekam ich von seinem Schwiegersohn. Aus seinen Erzählungen bestätigte es sich, was ich vorher nur hatte erahnen können. Herr S. war ein sehr treuer, hilfsbereiter und großzügiger Mensch.
Ganz besonders rührten mich die beiden Katastrophen in seinem Leben: Die eine Geschichte erzählt von einem 17-jährigen Soldat, der in einem Zweimann-U-Boot in den letzten Kriegstagen abgeschossen wurde und beinahe in der Januar-kalten Nordsee ertrunken war.
Und die zweite Geschichte beschrieb einen treuen, langjährigen Mitarbeiter in einer Kfz-Werkstatt, der in der Arbeit einen schweren Unfall erlitt, der ihm das Bein zertrümmerte. Er wollte eine Maschine des Arbeitgebers schützen, was ihm beinahe sein eigenes Bein gekostet hätte. Als Herr S. nach der Genesung an seinen Arbeitsplatz zurückkehren wollte, wurde er vom Chef rausgeschmissen mit den Worten: "Für Krüppel ist hier kein Platz."
Uff.
Die Prüfung lief gut und ich bin ihm unglaublich dankbar für seine großartige Unterstützung!
Nun war etwas Zeit vergangen, das erste Lehrjahr ging zur Neige. Herr S. kam ins Krankenhaus mit dem Verdacht auf einen Herzinfarkt. Nach ein paar Tagen kehrte er in sein Zimmer zurück. Der Verdacht hatte sich nicht bestätigt. Aber er war sehr geschwächt und sein Rumpf bis in die Beine waren mit Hämatomen unterlaufen. Niemand konnte sich erklären, woher diese kamen - die schwachen Gefäßwände waren vielleicht durch die Blutverdünnung unverhältnismäßig geplatzt und das Blut war großflächig ins Gewebe geflossen. Ich hatte so etwas noch nie gesehen und war schockiert. Und als ich vom Spätdienst nach Hause fuhr, war ich zum ersten Mal in diesem Jahr sehr unruhig und wollte die Antwort des Arztes am Telefon - das sei nichts Schlimmes und könne auch noch schlimmer werden, mache aber nichts - nicht akzeptieren bzw. mißtraute ihr.
Ich begann, bis spät in die Nacht zu googeln. Ich schlief unruhig und hatte immer wieder das Gefühl, dass Herr S. innerlich verblutete.
Am nächsten Tag, als ich auf Station kam, war Herr S. sehr lebendig. Und am Tag darauf auch. Die Hämatome bildeten sich zurück, aber es kam ein Harnwegsinfekt zu seiner Situation dazu und er mußte mit starken Antibiotika behandelt werden. Diese Medikamente hatten eine große Kraft, aber auch starke Nebenwirkungen. Und am letzten Tag der 5-tägigen Kur war ich im Spätdienst und Herr S. war in Aufruhr. Er hatte Halluzinationen und war verzweifelt, da er die Welt nicht mehr verstand. Es war ein Spätsommertag, an dem ein starkes Gewitter aufgezogen war und am Abend explodierte. Und dann passierte es. In Herrn S. Zimmer brach das Wasser ein. Zumindest sah er es überall eindringen. Durch die Wände, am Boden sammelte es sich, von der Decke tropfte es. Herr S. war in Angst. Er rief nach der Feuerwehr. Er war verzeifelt, da niemand sah, was er sehen konnte. Und die Hilfsangebote von uns Pflegern durchschaute er und merkte, dass wir ihm glaubten, aber nicht helfen konnten.
Am nächsten Tag wurde das Medikament, das auch zu einem solchen Delir führen kann, abgesetzt. Herr S. beruhigte sich. Er genas. Er blieb schwach. Er ist Mitte neunzig. Da darf man schwach sein und man darf weniger werden.
Nun, warum erzähle ich diese Geschichte so im Detail?
Immer wieder scheint es mir, dass die Ereignisse und Erinnerungen, gerade die Schweren, tief in uns eingeschrieben stehen. Sie schlummern dort irgendwo in unserer Seele oder im Herzen - wo auch immer. Und dann geschieht etwas - die Kognition löst sich langsam auf, durch das Alter, Medikamente, eine Demenz. Und diese Geschehnisse tauchen auf, wie Luftblasen aus einer großen Tiefe.
Vielleicht war es einfach nur das Gewitter, das A.S. dazu bewog, das Wasser in sein Zimmer dringen zu sehen. Aber vielleicht war da auch gleichzeitig ein 17-jähriger Knabe im Raum, der in den Kriegswirren fast ertrunken war.
Vielleicht.
Ich denke gerne an Herrn S. Ich hätte ihn gerne weiter begleitet und mich von ihm begleiten lassen. Ich danke Ihm und seinen Angehörigen von Herzen, dass Sie es gestattet haben, diesen Text zu veröffentlichen.
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